Bei vielen Unternehmen im Lösungsvertrieb bildet die regelmäßige subjektive Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit von Verkaufschancen nach wie vor die Grundlage für die Erstellung des Sales Forecasts. Aufgrund der Komplexität des Verkaufsprozesses sind Verkäufer*innen dabei häufig gezwungen, sich auf ihr Bauchgefühl zu verlassen, da in der Regel nicht alle Einflussfaktoren gleichzeitig berücksichtigt werden können.
Auch wenn das Bauchgefühl per se nichts Negatives ist, so geht der damit verbundene intuitive Prozess jedoch mit zahlreichen Wahrnehmungsverzerrungen einher. Für ein bestimmtes Projekt mag die Vertriebsprognose stimmen, doch „im Durchschnitt“ zeigt sich ein anderes Bild: Wir wünschen uns eine bestimmte Zukunft herbei, wir fehlinterpretieren die Vergangenheit, halten an verzerrten Bildern fest oder korrigieren unsere Fehlschlüsse nur widerwillig, um nur einige Effekte zu nennen.
Zu diesem Ergebnis kam auch eine aktuelle Studie von CSO Insight (2018), bei der weniger als die Hälfte der sichergeglaubten Verkaufschancen tatsächlich gewonnen wurden. Aber auch mit formal-strukturierten Review-Prozessen stieg die Quote laut der Studie nur auf 62,2%.
Doch was ist die Alternative, wenn es um die Vorhersage der Erfolgswahrscheinlichkeit von Verkaufschancen geht?
Die Studie „Sales Forecast 4.0“
Mit dieser Fragestellung beschäftigte sich Joerg Tetenborg vor ca. 2 Jahren im Rahmen seiner Studie „Sales Forecast 4.0“ an der FernUni Hagen. Hierbei wurde erstmals der Versuch unternommen, die Genauigkeit von Vertriebsprognosen für Verkaufschancen mit wissenschaftlichen Methoden zu verbessern.
Die Grundidee der Studie basierte auf Erkenntnissen der klinischen Psychologie zur Diagnose von Krankheiten. Auf diesem Gebiet wird seit mehreren Jahrzehnten daran geforscht, wie die intuitive Urteilsbildung von Expert*innen zur Vermeidung von Fehldiagnosen mit Hilfe von Entscheidungsalgorithmen verbessert werden kann. Bei der sogenannten statistischen Urteilsbildung wird die Diagnose anhand einer Reihe von Daten (Fragebogen, Messwerte usw.) mit Hilfe eines Prognosemodells „statistisch“ vorhergesagt. Dabei zeigte sich in zahlreichen Studien, dass die statistische Urteilsbildung der intuitiven Diagnose durch Expert*innen überlegen ist (Grove et al., 2000).
Welche Einflussfaktoren sind entscheidend, ob ein Projekt gewonnen oder verloren wird?
Zur Entwicklung eines statistischen Prognosemodells ist es zunächst erforderlich, inhaltlich bedeutende Einflussfaktoren für den Lösungsvertrieb zu finden. Denn nur wenn ein statistischer Zusammenhang mit dem Projekterfolg (Projekt gewonnen oder verloren) nachweisbar ist, kann die Genauigkeit von Vertriebsprognosen verbessert werden.
Als Datengrundlage für die potenziellen Einflussfaktoren dienten Experteninterviews, die im Vorfeld der Studie geführt wurden, aktuelle Erkenntnisse aus der Vertriebsforschung sowie ausgewählte Best-Practice-Ansätze zur Bewertung von Verkaufschancen wie beispielsweise MEDDIC, Value Selling oder die Miller-Heiman-Methode.
Aus den gesammelten Einflussfaktoren wurde anschließend ein wissenschaftlicher Fragebogen konstruiert, der via Online-Umfrage von den Teilnehmenden beantwortet wurde. Dazu wurden erfahrene Verkäufer*innen von beratungsintensiven Lösungen gebeten, den Fragebogen auf zwei Projekte ihres aktuellen Sales Forecasts anzuwenden. Mit Hilfe einer personalisierten Nachbefragung wurde abschließend die tatsächliche Kaufentscheidung der Interessenten erfasst.
Ergebnisse der Studie „Sales Forecast 4.0“
Bei der Datenauswertung konnten drei übergeordnete Erfolgsfaktoren mit insgesamt 14 Fragen identifiziert werden, die einen statistisch signifikanten Zusammenhang mit dem Projekterfolg zeigten.
- Der Erfolgsfaktor „Beziehung & Commitment“ spiegelt dabei verschiedene Aspekte der Beziehung zum Interessenten wider.
- Die „projektspezifische Wettbewerbsfähigkeit“ berücksichtigt die relative Stärke des Wettbewerbs
- Der Erfolgsfaktor „Anforderungen & Vorstellung“ zeigt, inwieweit die angebotene Lösung mit den Anforderungen und Vorstellungen des Interessenten übereinstimmt.
Der psychometrische Kurzfragebogen wurde mit Hilfe der klassischen Testtheorie entwickelt und ermöglicht eine valide und zuverlässige Erfassung der Erfolgsfaktoren.
Zur Vorhersage der Erfolgswahrscheinlichkeit der Verkaufschancen wurde anschließend ein KI-basiertes Prognosemodellentwickelt, dass sowohl die subjektive Einschätzung der Verkäufer*innen als auch die drei Erfolgsfaktoren des Fragebogens mitberücksichtigt.
Wie kann die Genauigkeit von Vertriebsprognosen objektiv gemessen werden?
Um die Genauigkeit (Prognosegüte) der Vorhersagen beurteilen zu können, wurden ROC (Receiver-Operating-Characteristics) Kurven verwendet. Die Fläche unterhalb der ROC-Kurve stellt dabei eine anerkannte Kennzahl für die Qualität der Prognosegüte dar.
Durch den Flächenvergleich (siehe Abb. 1) des Prognosemodells mit dem Bauchgefühl (subjektive Einschätzung) konnte erstmals empirisch nachgewiesen werden, dass die Vorhersagen des Prognosemodells signifikant genauer sind als das Bauchgefühl der Verkäufer*innen.
Neben einer exzellenten Prognosegüte Für die Beurteilung der Prognosegüte stellten Hosmer und Lemeshow (2013) folgende allgemeine Richtwerte auf:
< 0.70: ungenügend0.70 bis < 0.80: akzeptable0.80 bis < 0.90: exzellent>= 0.90: außerordentlichzeigte auch die Trefferquote des Prognosemodells einen beindruckenden Wert von 82 %. Dies bedeutet, dass bei 82 % der durchgeführten Vertriebsprognosen der Projekterfolg richtig vorhergesagt werden konnte,
unabhängig davon, ob das Projekt gewonnen oder verloren wurde. Zur besseren Einordung können die Trefferquoten mit einem Münzwurf verglichen werden. Die Vorhersage, ob eine Münze auf Kopf oder Zahl landet, ergibt eine Trefferquote von 50 %, da der Wurf per Zufall entschieden wird. Wird dieser Wert als Basiswert genommen, verbessert sich die Genauigkeit der Vertriebsprognosen im Vergleich zum Bauchgefühl von 18 % auf 32 %, was einer Steigerung um 77 % entspricht.
Wie funktioniert das KI-basierte Prognosemodell?
Um zu verstehen, wie das statistische Prognosemodell funktioniert, eignet sich ein kleiner Ausflug in die Mengenlehre. Die beiden oberen Kreise in der Abb. 2 repräsentieren dabei alle Informationen, die mit dem Bauchgefühl und der Beantwortung der Fragen zu den Erfolgsfaktoren zusammenhängen.
Der Kreis `Projekterfolg´ enthält Informationen darüber, ob die Verkaufschancen gewonnen oder verloren wurden. Im Unterschied zu den bereits erwähnten Best-Practice-Ansätzen berücksichtigt das Prognosemodell jedoch nur Information, die in einem statistischen Zusammenhang mit dem Projekterfolg stehen (Schnittmenge A, B und C). Unerwünschte Einflüsse, wie beispielsweise Erfolgsdruck, situative Effekte oder Stimmungen, die nichts mit dem Projekterfolg zu tun haben, werden dadurch statistisch geglättet.
Durch die Einbeziehung des Bauchgefühls (Schnittmenge A) in das Prognosemodell können Informationen berücksichtigt werden, deren Erfassung mit Hilfe der Erfolgsfaktoren nicht ohne weiteres möglich ist. Für die Genauigkeit der Vertriebsprognosen ist jedoch ausschlaggebend, dass jeweils nur der Informationsanteil berücksichtigt wird, der in einem statistischen Zusammenhang mit dem Projekterfolg steht.
Von der Idee bis zur Umsetzung in ein webbasiertes Prognose-Cockpit
Die Ergebnisse der Studie „Sales Forecast 4.0“ haben den Autor sowie 2 Kollegen dazu veranlasst sich für das EXIST-Gründerstipendium des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zu bewerben. Seit der offiziellen Zusage im März 2020 konnte mit dem Prognose-Panel bereits das erste Modul des webbasierten Prognose-Cockpits fertiggestellt werden.
Die datentechnische Grundlage für das Prognose-Cockpit bildet in der Regel ein übergeordnetes Customer-Relationship-Management (CRM) System, in dem die Verkaufschancen verwaltet und gepflegt werden. Für die Integration des Prognose-Cockpits in die jeweilige IT-Landschaft wurde bereits die Anbindung an verschiedene CRM-Systeme prototypisch realisiert.
Die zentralen Vorteile des Prognose-Cockpits in vier Punkten:
- Das Prognose-Cockpit mit seinem wissenschaftlichen Fragebogen bietet Unternehmen eine nachweisbare Verbesserung der Genauigkeit des Sales Forecasts.
- Durch die objektive Messung der Erfolgsfaktoren werden die Vertriebsprognosen und somit das Bauchgefühl transparent und nachvollziehbar. Dies spart Zeit in Forecast-Reviews und führt zu einer gemeinsamen Sprache sowie einem einheitlichen Verständnis im Vertrieb.
- Mit Hilfe der bewerteten Erfolgsfaktoren können die Problemfelder einer Verkaufschance auf einen Blick erkannt, sowie die weiteren Vertriebsaktivitäten zielführend gesteuert werden.
- Der Nachweis der Prognosegüte anhand von ROC-Kurven ermöglicht dem Vertrieb eine kontinuierliche Überprüfung der Genauigkeit ihrer Vertriebsprognosen sowie der damit verbundenen Trefferquoten.
Das Team von foreControl befindet sich noch bis Ende Mai 2021 im EXIST-Programm. Im Moment sind sie auf der Suche nach potenziellen Vertriebspartnern aus dem CRM-Umfeld sowie weiteren Unternehmen, die Interesse haben das Prognose-Cockpit unverbindlich zu testen.